„Privatheit“ in Rspr. d. BVerfG
„Privatheit“ in Rspr. d. BVerfG

„Privatheit“ in Rspr. d. BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht benutzt den Begriff „Privatheit“ seit 1957 in 32 verschiedenen Urteilen und Beschlüssen. Zunächst vereinzelt, seit 2004 jedoch vermehrt und mit steigender Häufigkeit. Das Gericht definiert den Begriff jedoch nicht selbst, sondern nutzt ihn offen zur Bestimmung von Eingriffen in verschiedene Grundrechte, insbesondere das des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und das der informationellen Selbstbestimmung. Insbesondere im Gefahrenabwehr- und Strafrecht nutzt das Bundesverfassungsgericht, die „Privatheit“ in Verbindung mit der Verhaltensfreiheit zur Bestimmung der Eingriffsintensität von staatlichen Polizei- und Ordnungshandeln.

(Dieser Beitrag wurde auch veröffentlicht in Johannes, ZD-Aktuell 2018, 06007)

„Privatheit“ ist zentrales Thema vieler gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Diskussionen (Nebel, ZD 2015, 517, s. auch http:\\www.forum-privatheit.de). Allerdings gibt keine einheitliche Begriffsbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht verwendete jedoch den Begriff „Privatheit“ in 32 unterschiedlichen Entscheidungen (siehe Tabelle 1.).

Der Begriff in wird in vier der Urteile und Beschlüsse ausschließlich in den Sachverhaltsdarstellungen verwendet, ohne dass sich das Bundesverfassungsgericht sich damit in der Begründung auseinandersetzt. „Privatheit“ wird in einem Urteil nur im Sondervotum erwähnt (BVerfGE 142, 234). Diese fünf Urteile fließen nicht in die folgende Bewertung ein.

Die Verwendung des Begriffs in den Urteilsbegründungen lässt sich Anhand des jeweiligen zugrundeliegenden Sachverhalts kategorisieren (siehe Diagramm 1). Es fällt auf das der Begriff am häufigsten in Urteilsbegründungen und Beschlüssen verwendet wurde, die das Gefahrenabwehr oder Strafverfahrensrecht im weiteren Sinne berühren.

Betrachtet man die Entscheidungszeitpunkte sieht man, dass der Begriff „Privatheit“ zum ersten mal vor dem Völkszählungsurteil verwendet wurde (1981 in BVerfGE 57, 170-220). Danach wurde er bis in das Jahr 2002 nur vereinzelt benutzt. Häufiger und regelmäßig verwendet wird der Begriff „Privatheit“ in den Urteilsbegründungen und Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts aber seit 2002. Besonders häufig wurde er in den Jahren 2006, 2008 und 2016 verwendet (siehe Diagramm 2).

Betrachtet man den Kontext der Begriffsverwendung wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgerichts den Begriff „Privatheit“ unterschiedlich nutzt (siehe Diagramm 3). Dies wird besonders deutlich, wenn man die Verwendung des Begriffs im Kontext nach Rechtsgebieten zusammenfasst (siehe Diagramm 4). Zum einem kennt er eine räumliche Privatheit, die den Schutzbereich Wohnung und einen höchstpersönlichen Kern der Lebensgestaltung abgrenzen soll. Häufiger jedoch steht Privatheit gleichberechtigt neben dem Recht auf Freiheit oder Verhaltensfreiheit. Dies entspricht der Verwendung des Begriffs der Privatsphäre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Umgangssprachlich wird der Begriff „Privatheit“ ohnehin oft synonym mit dem der Privatsphäre verwendet. Letzterer ist in der Rechtsprechung bestimmt, als Recht Jedermanns, einen autonomen Bereich der eigenen Lebensgestaltung zu behalten, in dem er seine Individualität unter Ausschluss anderer entwickeln und wahrnehmen kann. Dabei wird die Privatsphäre sowohl thematisch und als auch räumlich bestimmt. Der Begriff findet insbesondere dann Anwendung, wenn es um die Feststellung der Intensität der Rechtfertigungsbedürftigkeit eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht geht (Geminn/Roßnagel JZ 2015, 703 (705). In ihrem Anwendungsbereich wurde der Begriff Privatsphäre aber als zu unbestimmt, ungeeignet und freiheitsbeschränkend erkannt. Mit der Anerkennung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 65, 1) einen Wechsel in der Bestimmung des Schutzbereichs vollzogen und einen freiheitsorientierten Ansatz gewählt (Geminn/Roßnagel JZ 2015, 703 (707).

Der Begriff „Privatheit“ wird vom Bundesverfassungsgericht ähnlich wechselhaft benutzt. Die Auswertung zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff „Privatheit“ offen zur Bestimmung von Eingriffen und deren Intensität in verschiedene Grundrechte nutzt. Insbesondere im Gefahrenabwehr und Strafrecht nutzt das Bundesverfassungsgericht, die „Privatheit“ in Verbindung mit der Handlungsfreiheit zur Bestimmung der Eingriffsintensität von staatlichen Polizei- und Ordnungshandeln.

Diagramm 1: Verteilung Begriff „Privatheit“ in Rspr. BVerfG

Diagramm 2: Häufigkeit Begriff „Privatheit“ in Rspr. BVerfG

Diagramm 3: Verwendung Begriff „Privatheit“ im Kontext

Diagramm 4: Verwendung Begriff „Privatheit“ im Kontext nach Rechtsgebieten

Tabelle 1

AktenzeichenDatumBVerfGERechtsgebietKontext „Privatheit“
1 BvR 550/5210.05.1957BVerfGE 6, 389-443Gefahrenabwehr und StrafrechtSachverhalt
2 BvR 646/8005.02.1981BVerfGE 57, 170-220Gefahrenabwehr und StrafrechtKernbereich familiärer Privatheit
1 BvR 208/9326.05.1993BVerfGE 89, 1-14Schutz der Wohnungräumliche Privatheit
2 BvR 894/9413.12.1994Gefahrenabwehr und Strafrechträumliche Privatheit
1 BvR 653/9615.12.1999BVerfGE 101, 361 – 396PresseSachverhalt
1 BvR 2479/97,
1 BvR 158/98
05.04.2000PresseSchutz der Privatheit
1 BvR 1611/96,
1 BvR 805/98
09.10.2002BVerfGE 106, 28 – 51Beweisverwertung ZivilprozessPrivatheit der Kommunikation
1 BvR 2378/98,
1 BvR 1084/99
03.03.2004BVerfGE 109, 279-391Gefahrenabwehr und Strafrechträumliche Privatheit
2 BvR 1248/03,
2 BvR 1249/03
09.06.2004SozialrechtSachverhalt
2 BvR 2099/0402.03.2006BVerfGE 115, 166 – 204Gefahrenabwehr und StrafrechtEinbuße an Privatheit durch Technik
1 BvR 518/0204.04.2006BVerfGE 115, 320 – 381Gefahrenabwehr und StrafrechtPrivatheitsinteresse
1 BvR 2606/04,
1 BvR 2845/04,
1 BvR2846/04,
1 BvR2847/04
21.08.2006Presserechträumliche Privatheit
2 BvR 1345/0322.08.2006Gefahrenabwehr und StrafrechtEinbuße an Privatheit durch Technik
1 BvR 1550/03,
1 BvR 2357/04,
1 BvR 603/05
13.06.2007BVerfGE 118, 168-211Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
2 BvE 1/06,
2 BvE 2/06,
2 BvE 3/06,
2 BvE 4/06
04.07.2007BVerfGE 118, 277-401Freiheit des MandatsÖffentlichkeit und Privatheit
2 BvR 160/0811.02.2008Schutz der Wohnungräumliche Privatheit
2 BvR 2697/0718.02.2008Gefahrenabwehr und Strafrechträumliche Privatheit
1 BvR 1602/07,
1 BvR 1606/07,
1 BvR 1626/07
26.02.2008BVerfGE 120, 180-223Presserechträumliche Privatheit
1 BvR 370/07,
1 BvR 595/07
27.02.2008BVerfGE 120, 274-350Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
1 BvR 2388/0310.03.2008BVerfGE 120, 351-377Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
1 BvR 256/0811.03.2008BVerfGE 121, 1-30Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
1 BvR 2074/05,
1 BvR 1254/07
11.03.2008BVerfGE 120, 378-433Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
2 BvR 2225/0802.07.2009Gefahrenabwehr und StrafrechtSachverhalt
1 BvR 966/09,
1 BvR 1140/09
20.04.2016BVerfGE 141, 220-378Gefahrenabwehr und Strafrechthöchstpersönliche Privatheit
1 BvQ 4271508.06.2016Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
1 BvR 229/16
(1 BvQ 42/15)
08.06.2016Gefahrenabwehr und StrafrechtVerhaltensfreiheit und Privatheit
2 BvR 637/0921.06.2016BVerfGE 142, 234-268Gefahrenabwehr und StrafrechtSondervotum
2 BvR 1454/1306.07.2016Gefahrenabwehr und StrafrechtPrivatheit der Kommunikation
1 BvR 458/1027.10.2016BVerfGE 143, 161-21Religionsfreiheitzurückgezogene Religionsfreiheit
1 BvR 967/1509.02.2017Presserechträumliche Privatheit
1 BvR 2897/1409.02.2017Presserechträumliche Privatheit